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Manchmal bin ich mir selbst ein Rätsel

Foto: KI-generiert
Foto: KI-generiert

(Eine Hommage an Howard Phillips Lovecraft)

 

 

Zurzeit herrschen bei mir Dunkelheit, Entsetzen, Panik, denn in meinen vier Wänden lauern dräuende Gefahren, hockt der Tod gemütlich auf der Couch und grinst sich ins vermoderte Hemd, das um seine faulenden Gliedmaßen schlottert. Das ist nicht rätselhaft, auch nicht weiter schlimm und vor allem schnell erklärt: Einer rituellen Anwandlung folgend lese ich mal wieder die absonderlichen Schauer-Geschichten von Howard Phillips Lovecraft.

Herrlich gruselig.

 

Zum Glück werde ich es wohl in echt nie erleben, in diese von ihm lustvoll ausgemalten Szenen voller Seelenschmerz, Pein und Drangsal zufällig hineinzustolpern. Denn dort nur tot überm Zaun zu hängen, wäre sicherlich noch die harmloseste Ablebe-Variante. In der Regel ist es so, dass die Menschen an solchen pandämonischen Orten elendig dahinsiechen, dass sie käsebleich in den Wahnsinn getrieben werden oder dass der Leibhaftige höchstpersönlich auftaucht, um sie seinen getreuen Höllenhunden zum Fraß vorzuwerfen.

Bah.

 

Aber es gibt eine ganze Menge Storys, in denen Musik vorkommt. Das macht mich stets hellhörig. Oftmals plärrt es geisterhaft vernebelt aus unzugänglichen Bergregionen, in denen abscheuliche Rituale praktiziert werden. Oder es gurgelt in atonaler Manier aus der Tiefe der Erde, wo schmierige Dämonen in teuflischen Tempelstätten leben. Gerne plingt es auch silbrig flirrend aus den Weiten des Alls oder den Tiefen der Meere, den gemütlichen Heimstätten von flatternden Flugmonstern und fiesen Fischmenschen. Der fabulierende Musensohn aus Providence, Rhode Island, bleibt allerdings in den Beschreibungen vage, wenn’s um seine eingeflochtenen Klänge geht. Sogar in der Story Die Musik des Erich Zann, die eigentlich prädestiniert dafür ist, symphonisch ins Eingemachte zu gehen. Wir lesen hier nur von quälenden Melodien und von Lauten, die einen mit Grauen erfüllen. Und von Tönen und Schwingungen, die nicht von dieser Welt stammen, und von einer kreischenden Violine, die die Klänge zu einem chaotischen Babel von Harmonien auftürmt.

 

Nur einmal wird der Meister des übernatürlichen Horrors ein wenig konkreter. In der bizarren Grabräuber-Erzählung Der Hund passieren äußerst abnorme Dinge, und die zwei durchgeknallten Protagonisten, die ihre Trophäen zur Befriedigung ihrer Lust an der Schönheit des Todes in ihrem privaten Museum nur für sich zur Schau stellen, tun im Laufe der Handlung nämlich auch dies: Sie nehmen widerwärtige Musikinstrumente (!) von der Wand der Grabkammer, um darauf Dissonanzen von exquisiter Morbidität (!) und kakodämonischer Schrecklichkeit (!) zu erzeugen.

 

Urplötzlich werde ich beim Lesen in ein zyklopisches Klanggemälde hineingesogen, dessen irrwitzig kombinierte Farbenpracht unablässig pulsiert und explodiert und als ein Dröhnen und Rauschen und Quietschen und Piepen über mich einbricht und sich freakig, impulsiv, ausgeflippt und krass zu einer Kakofonie des Wahnsinns steigert. Sofort schleudern mir meine Synapsen in meinem verdrehten Hirnkasten das unheilschwangere Crossover in meine Ohren, das auf der LP „Desire“ der Band Tuxedomoon zu hören ist. Diese amerikanischen Avantgardisten haben Sie nicht mehr auf der Pfanne? Dann gucken Sie mal tief in ihren Plattenschrank. In der Zwischenzeit widme ich mich mal so lange einer alten Platte von Can.

 

Hatte mir Hannes vor kurzem noch von erzählt, dass gerade jetzt die fiebrig-flirrende Musik von Can aus den frühen 1970er-Jahren noch immer jenen magischen Zauber verströmt, der uns als Jugendliche bereits betört hatte. Eine Musik voller Rätsel zwar, dafür aber ohne Pomp und Pomade, frei von Zwängen, grenzenlos und keinem Sounddiktat unterworfen. Weltoffen und tolerant ist sie und esoterisch und spirituell, trotz hypnotischer Harmonik, trotz stoischer Rhythmik. Ich legte mir kürzlich die „Future Days“ auf, geriet in beste Stimmung, empfand die Musik auf einmal so, als wären da hysterische Virtuosen unter der Leitung von Freund Hein am Werk, die elysische Schwingungen in sinnwidrigem Gepränge produzierten.

Wahrhaftig nicht schlecht.

 

Die Beschäftigung mit dem Tod an sich ist generell aufregend. Ich kenne mich ein wenig aus. Als Messdiener, was äonenweit zurückliegt, assistierte ich häufig bei Beerdigungen. Da erklang stets viel Musik. Traurig klingende und schwer atmende Musik, meist aus dem Klassikumfeld. Für meinen Job erhielt ich von den Angehörigen am Ende der Zeremonie mindestens fünf Mark bar auf die Kralle. Dafür nahm ich gern die Bürde in Kauf, das Schluchzen und Weinen der Trauergemeinde und oftmals auch das schiefe Spiel auf dem Harmonium in der Aussegnungshalle und vor allem diesen eindringlich-aufdringlichen Geruch der Blumengestecke zu ertragen, am Sarg zu stehen, den Sarg bis zum Grab zu begleiten und zuzusehen, wie der Sarg in die Grube abgesenkt wurde.

 

Obwohl ich in der Uhlandstraße aufwuchs, einer Straße, die von weiteren Dichter-Straßen, benannt nach Lessing, Goethe und Freiligrath, umgeben war, hatte ich mit deren Literatur wenig im Sinn. Meine schreibenden Helden hießen eine Zeitlang Dan Shocker oder Jason Dark, und die erzählten mir dermaßen groteske Abenteuer, dass meine Fantasie Amok lief. Ich ergötzte mich an die Irrfahrt der Skelette, durchlebte schrille Nächte der Dämonen, spazierte durch Das Tal der tödlichen Maden, um schließlich im Spiegel des Grauen die Stufen zur Verdammnis herunterzuschreiten. Und wo endete der Trip? Natürlich in Draculas Blutgemach

 

„Er hatte seine Augen fest auf den Sarg gerichtet. Plötzlich zerschnitt ein schriller Schrei die Stille. Kaltes Entsetzen machte sich unter der Trauergemeinde breit. Der Schrei war aus dem verschlossenen Sarg gekommen ...!“

 

Wahnsinn!

Irre!

Unfassbar!

 

Mit solchen Bildern im Kopf schmückte ich mir noch während der Zeremonie aus, wie das so ist, wenn sich der beigesetzte Körper nicht sofort zersetzt und verfault. Als scheintoter Mensch in der finsteren, engen Grube aufzuwachen, ist irgendwie doof. Du hast Durst, du hast Hunger, du hast Angst und du knabberst aus lauter Panik erst einmal an deinen noch verbliebenen Kleidungsstücken herum. Und wenn du die heruntergewürgt hast, was machst du dann? Erst mal kräftig schreien, damit dich jemand hört? Friedhöfe sind keine Rummelplätze. Hilferufe verhallen ungehört.

 

Tod erlebte ich somit regelmäßig, manchmal sogar fast jede Woche aufs Neue. Als Siebenjähriger war ich noch gänzlich unerfahren, als ich Tod und Beerdigung zum allerersten Mal erlebte. Da starb der Opa mütterlicherseits. Auch das Prozedere vorher, als der Bestatter im schwarzen Anzug gekleidet und umwölkt von eben jenem eindringlich-aufdringlichen Duft, der mir später von den übel riechenden Trauerblumen meiner Beerdigungen in die Nase wehte, mit seinem Musterkatalog in die Wohnung kam und die Eltern über Bestattungswäsche und Aufbahrungsartikel informierte, war für mich eine Premiere.

 

Bis zu diesem Zeitpunkt glaubte ich fest daran, dass der Mensch mit allem Zipp und Zapp sofort in den Himmel fliegen würde, wenn ihn der Tod ereilt. Und was in den Sarg hineingelegt wird, ist nur noch seine leere Hülle ohne Knochen, Organe und so weiter. Und dann die große Überraschung: Opa durften wir alle, auch mein Bruder, meine Cousine und mein Cousin, vorher noch im offenen Sarg angucken. Opa war tatsächlich vollständig vorhanden!

 

Als keiner mehr hinschaute, zwackte ich ihn sogar klammheimlich mit meinem Zeigefinger mehrmals in die rechte Backe. Zu Hause rieb ich mit der Nagelbürste so lange über die Fingerspitze, bis sie rot und rissig war, weil ich panische Angst hatte, er hätte mich jetzt angesteckt und ich müsste auch bald sterben. Nur weil meine Cousine allen Ernstes behauptet hatte, Tote seien hochgiftig, und dass man sie auf keinen Fall berühren dürfe.

 

So. Sie haben ihre Tuxedomoon-Platte gefunden? Und? Auch schon hineingehört? Sind sie nicht herrlich bizarr, diese diabolischen Blasetönchen, Orgelkadenzen und Violinenweisen, die da kopflos durch die Leere des Universums taumeln würden, hielten sie nicht kräftig mäandernde Basslinien und überirdisch tuckernde, schleifende, knarzende und blubbernde Rhythmuspattern im Zaum? Die Melodien schleppen sich schlurfend und ziemlich ängstlich durch die mitleidlos reduzierten Arrangements, und manchmal kommt es einem vor, als würden sie sich danach sehnen, erst gar nicht komponiert und gespielt worden zu sein. Es ist ein heimtückischer Klangkosmos, der aufs Vortrefflichste die Morbidität und die Schrecklichkeit Lovecraftscher Horrorstorys umrahmt. Oder? Mal branden die Klänge auf, mal fließen sie aus. Mal sind sie da, mal sind sie weg. Wie Ebbe und Flut. So ergeht es oftmals auch den Menschen in den Geschichten des Amerikaners. Gerade eben sind sie noch da und plötzlich sind sie mir nichts, dir nichts vom Erdboden verschwunden. Einfach so. Ein Fingerschnippen und weg sind sie.

 

So etwas passiert auch schon mal in Wirklichkeit. Nehmen wir zum Beispiel meinen Kumpel Jörg. Auf einmal war er verschwunden. Jörg war ein Highway-Star und Landstraßen-Cruiser, der bei seinen Touren gern Tramperinnen aufgabelte und sie fragte, wo sie denn hinwollten. Und dann tat er so, als sei es exakt auch sein Weg. Das war ein spezielles Hobby von ihm. Manchmal schaffte er es bei der Gelegenheit sogar tatsächlich, ein Mädchen abzuschleppen. Jörgs Auto fand man irgendwann einmal in der Nähe der Bundesstraße, die die Stadt A mit Stadt B verband. Die Tür sei halb geöffnet gewesen, hieß es, und auch das Radio habe noch gespielt. Von Jörg gab es seitdem keine Spur. Bis heute nicht.

 

Bei mir war das übrigens anders: Mit einem Schlag blieb das Auto stehen und ließ sich nicht mehr wach kitzeln. Dass sich unter dem Motorblock tropfenweise eine schmutzig-schwarze Pfütze gebildet hatte, der linke Hinterreifen ziemlich platt war und das geöffnete Fenster auf der Fahrerseite nicht mehr hochkurbeln ließ, nahm ich nur am Rande wahr. Ich drehte mir gelassen eine Kippe, setzte mich auf den Kilometerstein, genoss die Stille in der niedersächsischen Landschaft und überlegte ernsthaft, ob ich nicht bleiben sollte. Einfach so. Den Wagen stehen lassen, in die nächstgrößere Stadt laufen und mit dem Leben von vorn beginnen. Ich war zu dem Zeitpunkt 28 Jahre alt, eigentlich ein gutes Alter, um das Wagnis einzugehen, komplett neu durchzustarten. Ich habe es nicht getan. Vielleicht hatte es Jörg so getan. Wer weiß.

 

Ich habe selten eine Musik gefunden, die mir die beschriebenen Klangwelten in den Lovecraft-Geschichten so perfekt nahe bringt wie die, die auf Tuxedomoons „Desire“-Platte zu hören ist. Jahrzehntelang war ich mir sicher, dass nur die Musik von Can die perfekte Illustration sein könnte. Was wohl seinerzeit Mitte der 1920er-Jahre dem Horror-Meister durchs Gemüt schwirrte, als er über seine in Worte gefassten beklemmenden Klang-Kolorierungen sinnierte, die er bildreich nächtens in die Tasten schlug?

 

Schön finde ich, dass es dieser Tage Sargbau-Workshops gibt und sogar Online-Kurse zum Urne-Töpfern. Vorerfahrung, so heißt es, ist nicht erforderlich. Das ist gut, denn ich hab's nicht so mit der Heimwerkelei. Ich bin zwar kein Bestattungsutensilien-Fetischist wie der namenlose Erzähler und sein Freund St. John in der eingangs erwähnten Grabräuber-Story, denke mir jedoch, Vorsorgen ist vielleicht gar nicht so schlecht. Eventuell halte ich auch schon mal nach Spielern Ausschau, die die hohe musikalische Kunst beherrschen, morbide Dissonanzen zu fabrizieren, damit meine Grablegung auch in einem stimmungsvollen kakodämonischen Schrecklichkeits-Klangrahmen stattfinden kann. Natürlich möchte ich auf jeden Fall vorab wissen, mit welchen widerwärtigen Instrumenten sie dann gespielt werden würden.

 

Was denn, das ist Ihnen zu gruselig? Ihnen schaudert es vor den oftmals irritierenden Zusammenhängen in meinen flotten Assoziationsreihungen? Nun ja, manchmal bin ich mir selbst ein Rätsel.

 

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