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Geier Sturzflug - In der großen Tradition der kleinen Haushaltswaren (2022)

Warum ein Song über die Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft in einem Jahr, eben übers Bruttosozialprodukt, über Nacht zum Hit wird, kann man wohl nie ergründen. Er lässt sich auf jeden Fall nicht generalstabsmäßig planen. „Bruttosozialprodukt“, das Lied, war bereits ein betagter Szene-Song, als die Bochumer Gruppe Geier Sturzflug mit der Aufschwung-Story anno 1983 zu Hitparaden-Ehren aufstieg. Schon in den 1970ern sang Friedel Geratsch sein Lied vom amputierten workaholic, der sich jetzt wieder mächtig in die Arbeit hineinkniet. Und da agierte er noch gemeinsam mit seinem Kumpel Reinhard Baierle im Straßenmusik-Duo Dicke Lippe.

 

Seitdem ist viel Zeit vergangen und Mastermind Friedel Geratsch hat reichlich erlebt, war auf etlichen Bühnen zuhause, produzierte eine Menge hervorragender Musik unter seinem Namen und mit Cigar-Box-Guitars, veröffentlichte vergangenes Jahr mit der CD „Mit dem Abstand der Jahre“ und seiner Autobiographie „Eins kann mir keiner…“ eine – ich sage es mal spaßhaft – vorläufige Bilanz seines rock- und popmusikalischen Schaffens. Über 50 Jahre Showbiz hat er zwar schon auf dem Buckel, aber dass sich der mittlerweile 70-jährige Musiker zur Ruhe setzen wird, daran glaube ich nicht mehr. Denn der umtriebige und kreative Mann hat den Kopf überbordend voll mit pfiffigen Ideen, die alle naselang nunmal in die Öffentlichkeit wollen und – wie ich finde – auch sollen.

 

Zur Abwechslung ist er jetzt back to the roots gegangen und beschreibt mit Ska- & Reggae-Rhythmen ummantelte Bilder aus der von Katastrophen gezeichneten Wirklichkeit. Friedel Geratsch musiziert mit seinen aktuellen Geiern (Karsten Riedel, Carlo von Steinfurt, Reiner Hundsdoerfer, Sven Nowoczin) so gnadenlos frech und lässig am Mainstream vorbei wie einst im Mai und sorgt bei Themen wie Hiobsbotschaften, Lockdown, Legaliserung von Cannabis, Klimawandel oder YouTube-Akademie-Absolventen stets für erhellende Momente. Anspieltipps? Gerne: „Fünf vor Zwölf“ beispielsweise (Refrain: Wie lange ist es eigentlich schon fünf vor zwölf/ nur mal so gefragt/ irgendwann werden wir wach und in Wirklichkeit ist es viertel nach…). Oder „Kiffen kurbelt die Wirtschaft an“ (Refrain: Früher haben wir für den Chef in die Hände gespuckt / heute kiffen wir fürs Bruttoinlandprodukt… ).

 

Die insgesamt dreizehn Songs auf der CD mit dem grandiosen Titel „In der großen Tradition der kleinen Haushaltswaren“ (YellowSnakeRecords, Dauer: 42:13) knallen Takt für Takt punktgenau ins Hirn und ins Herz, kitzeln mit ironisch-bissigen Texten voller Sprachwitz und Galgenhumor die Synapsen wach und bringen mit ihrem eigenwilligen frühstücksfröhlichen Beat das Bewußtsein äußerst flott auf Vordermann. Wahrhaftig ein musikalisches Wellness-Programm für Körper, Geist und Seele. Allerdings eines der eher unbequemen Art. Und das ist auch gut so.